June und die Reise zur Wolfsjagd - Leseprobe
Kapitel 1
Den Sprung in eine der anderen Welten ohne einen Dryaden-Wolf überlebt niemand. Die Begegnung mit einem freien Dryaden-Wolf überlebt nur jemand mit magischen Kräften, und auch von denen nicht alle. Diejenigen, die eine Begegnung überleben, haben allerdings nicht nur einen Freund für ihr Leben, sondern auch einen Beschützer. Sie bekommen mit den anderen Sehern, die sich ebenfalls an einen Dryaden-Wolf binden, eine neue Familie. Lange leben tun sie trotzdem nicht.
Ich habe keine magischen Kräfte, keine Beschützer und keine Familie. Freunde gibt es hier nur so lange, wie die Nahrung nicht knapp wird und ich möchte all das auch nicht. Was ich möchte, ist, am Leben bleiben. Deshalb kann ich nicht fassen, dass die Häscher hinter mir her sind, und ich sie bisher nicht abschütteln konnte. Ich stehe am Rand eines Daches und schaue nach unten. Unter mir ist ein aus Holz gezimmerter Balkon, mit einem gezielten Sprung könnte ich es vielleicht schaffen darauf zu landen, aber es ist fast noch dunkel und außerdem hat es die ganzen letzten Tage geregnet. Auch kann man nie genau wissen, ob ein Balkon hält, daher springe ich eigentlich nur auf die, die ich kenne. Den hier kenne ich nicht, aber das hier ist ein Notfall. Ich werfe einen Blick über die Schulter und erhasche einen Blick auf die zwei Häscher, die nur noch ein Dach entfernt sind. Ihre schwarzen Umhänge lassen sie beinahe mit der frühen Dämmerung verschmelzen. Ich kann sie kaum ausmachen, aber ich weiß, dass sie dank ihrer magischen Kräfte in der Lage sind, im Dunkeln wesentlich besser zu sehen als ich. Einer von ihnen setzt zum Sprung an und landet leichtfüßig auf dem Dach, auf dem ich am anderen Ende stehe. Ich hangele mich über die Kante des Daches, hänge für einen Moment in der Luft und lasse mich fallen. Beim Aufkommen schließe ich die Augen. Das Holz knarzt, die Konstruktion schwankt, aber sie hält. Ich öffne die Augen wieder, über mir höre ich die Schritte der Häscher. Ich muss von diesem Balkon runter bevor sie mir folgen. Hektisch sehe ich mich um. Die einzige Möglichkeit, die nicht in einem Sprung auf die mehrere Meter unter mir liegende Straße und damit mit gebrochenen Knochen enden würde, ist der Weg ins Innere des Hauses. Nur eine dünne Glasscheibe trennt mich von diesem Fluchtweg. Ich winkle den Ellbogen an und ramme ihn gegen die Scheibe. Die Scheibe vibriert, aber sie bricht nicht und mein Ellbogen tut höllisch weh. Jetzt sind sie direkt über mir, ich kann sie hören, wie sie sich gedämpft Befehle zurufen.
Ich kann ihnen nicht in die Hände fallen. Ich darf ihnen nicht in die Hände fallen. Das habe ich IHM versprochen und das werde ich halten. Auch wenn es meine einzige Möglichkeit wäre, ihn wiederzusehen. Für einen Moment bin ich versucht auf diesem Balkon stehen zu bleiben und mich fangen zu lassen, aber dann fällt mir ein, dass er vielleicht schon gar nicht mehr lebt, weil nicht jeder das erste Jahr in der Ausbildung zum Seher schafft. Weswegen auch kaum jemand freiwillig auf die Welt-Zeit-Akademie geht. Naja, ein paar Idioten gibt es immer, aber ich gehöre nicht zu denen. Zumindest möchte ich gerne glauben, dass ich keine Idiotin bin, obwohl ich mich von diesen Typen in Schwarz habe finden lassen.
Auf dem Dach ertönt ein Scharren und Kratzen. Ich hebe den Kopf. Über mir hebt sich die Gestalt eines Häschers vor dem heller werdenden Morgenhimmel ab. Sein Mantel weht im Wind, während er sich hinkniet, bereit mir auf den Balkon zu folgen. Ich versuche es erneut. Winkle den Arm an, ramme ihn in die Scheibe. Das Geräusch des splitternden Glases kracht in meinen Ohren. Eine Scherbe reißt mir den Unterarm auf und eine weitere fliegt so dicht an meiner Wange entlang, dass ich einen scharfen Schmerz spüre und warmes Blut mein Kinn runterrinnt. Egal, es ist alles egal. Ich halte mein Versprechen, Brice, denke ich. Ich werde dir nicht folgen. Sie werden mich nicht kriegen.
Während ich blind nach dem Fenstergriff im Inneren taste frage ich mich, wie die Häscher auf mich gekommen sind. Ich bin nicht besonders mutig, nicht besonders kräftig und vor allem habe ich keine Spuren von Magie an mir. Das Einzige, was ich kann, ist schnell sein. Ich hoffe, dass mir das mein Leben rettet. Und ich bin klug – zumindest hat Brice das von mir behauptet. Er sagte, wer so klug ist, wird sich nicht fangen lassen. Aber vermutlich hat er sich nur selbst belügen wollen. Oder er glaubt, jeder der einigermaßen lesen kann sei automatisch klug. Dabei weiß ich nicht mal genau, warum ich lesen kann. Irgendjemand muss es mir beigebracht haben, aber ich kann mich nicht erinnern wer. So wie ich mich an nichts erinnern kann, was vor meiner Zeit als Ausgestoßene gewesen ist.
Das verdammte Fenster klemmt. Ich hebe den Blick. Panik durchfährt mich. Der Häscher hängt bereits an der Regenrinne, gleich, gleich wird er sich zu mir fallen lassen und dann war es das für mich. Ich rüttele an dem Fenstergriff, es quietscht und das Fenster öffnet sich. Ich springe auf die Fensterbank, gleichzeitig fällt der Häscher so dicht an mir vorbei, dass ich einen Luftzug spüre und sein Mantel mir ins Gesicht schlägt. Krachend kommt er auf dem Balkon auf. Ein zweiter Häscher folgt ihm. Ich hechte von der Fensterbank ins Innere des Hauses und schlage mit dem Knie an eine Kante. Fluchend drehe ich mich in dem Moment zu dem Balkon um, in dem das Holz knarzend nachgibt. Beide Häscher stürzen mit einem Aufschrei in die Tiefe. Erleichtert atme ich auf.
Meine Erleichterung dauert nur eine Sekunde lang an, dann höre ich sie schon über mir rufen.
„Sie ist im Haus!“
„Öffne ein Weg-Portal durch das Dach, dann haben wir sie!“
Ich sehe mich hastig nach der Tür um. Ich muss hier wieder raus, bevor die Häscher im Haus sind. Mein Blick bleibt an den erschrockenen Augen einer älteren Dame hängen, die eine räudig aussehende Katze an sich gedrückt hält und einen schrillen Schrei ausstößt.
„Entschuldige“, stoße ich hastig hervor, während ich an ihr vorbei zur Tür hechte und dabei ein Tischchen mit altmodischem Teeservice beinahe über den Haufen renne. „Kommt nicht wieder vor, versprochen!“
Ich erreiche die Tür, reiße sie auf und stürze in den Hausflur hinaus. Dieses Haus stammt noch aus der Zeit vor der Welt-Zeit-Kollision, die die Erde in ihren Grundfesten erschüttert hat, jedenfalls weist es die typischen Merkmale auf. Die Treppen sind alt und ausgetreten. Ich schwinge mich auf das Treppengeländer und rutsche herunter. Das wenigstens hat mich mein Leben als Ausgestoßene gelehrt: Ich finde immer den schnellsten Weg, wenn auch nicht immer den einfachsten. Unten angekommen bin ich so schnell geworden, dass ich mich fast nicht bremsen kann und auf dem Boden aufknalle. Im letzten Moment fange ich meinen Sturz mit den Handflächen ab. Ein scharfer Schmerz fährt durch mein Handgelenk. Ich beachte ihn nicht, ich springe sofort wieder auf und schaue mich in dem alten Hausflur um. Er ist groß. Früher ist das hier bestimmt ein eindrucksvolles Gebäude gewesen, bevor der Verfall einsetzte. Aus dem Stuck an der Decke sind große Stücke herausgebrochen, ein leerer Sockel zeugt von einer ehemals intakten Statue. Ein dünner Film aus Schmutz überzieht den rot-weiß gefliesten Boden.
Ich renne auf die Tür zu – und pralle im nächsten Moment wieder gegen das Geländer und falle rücklings auf den Boden. Benommen bleibe ich einen Moment auf den kalten Fliesen liegen, bis mir klar wird, dass es ein Magiestoß war, der mich zurückgeworfen hat. Ich werfe mich auf die Seite und schaue zur Tür. In dem hellen Viereck der geöffneten Türflügel steht ein Häscher. Sein schwarzer Umhang bewegt sich im Wind. Ich springe auf und hechte auf eine andere Tür zu, die dahinterliegende Wohnung steht hoffentlich leer. Aber kaum habe ich sie erreicht, wird auch diese Tür aufgestoßen und obwohl mich diesmal kein unsichtbarer Schlag trifft, taumele ich rückwärts. Ein Blick über die Schulter verrät mir, dass auch die einzige weitere Tür bereits besetzt ist. Wie sind die so schnell vom Dach hier runtergekommen? Sie sind gefallen, erinnere ich mich. Sie haben diese Anzüge, die sie auch einen Fall aus hoher Höhe unbeschadet überstehen lassen. Wieso müssen diese Typen alle Vorteile auf ihrer Seite haben?
Der einzige Weg hier raus ist der Weg zurück die Treppe hinauf, aber noch bevor ich die erste Stufe betreten habe, ertönt oberhalb meines Kopfes ein unheilvolles Knarzen. Panik fährt mir durch den ganzen Körper. Nein, denke ich, nein, nein, nein! Und gleichzeitig: Es tut mir leid, Brice. Ich habe mein Versprechen gebrochen. Wie in Zeitlupe sehe ich einen der Häscher in seinem wehenden Mantel die Treppe herunterkommen, gelassen, Schritt für Schritt, als habe er alle Zeit der Welt. Mit wild klopfendem Herzen sehe ich mich nach einem Ausweg um. Am oberen Treppengeländer steht die verängstigte alte Frau mitsamt der an sie gedrückten Katze und starrt mit offenem Mund zu mir herunter. Dann scheint sie sich zu fassen und ruft mir zu: „Hör auf dich zu wehren, Mädchen. Die kriegen jeden, auf den sie es abgesehen haben.“
Der Häscher auf der Treppe lässt ein raues Lachen hören, das nicht einmal unsympathisch klingt und doch möchte ich ihm den Hals umdrehen.
„Hör auf sie, June“, sagt er.
Er kennt meinen Namen. „Woher…“, hauche ich.
„Glaubst du, wir sammeln nicht jedes kleinste Detail über die, die wir einziehen?“
Einziehen. Was für ein nettes Wort für diese Hetzjagd, die sie schon seit mehreren Tagen abhalten. Viermal bin ich ihnen entkommen. Sieht nicht so aus, als würde es mir ein fünftes Mal gelingen.
„Manche betrachten es als eine Ehre, weißt du. Viele kommen freiwillig.“ Der Häscher hat das untere Ende der Treppe erreicht und macht einen lässigen Schritt auf mich zu. Ich gehe rückwärts, obwohl ich weiß, dass ich es nicht sollte. Als Ausgestoßene bin ich auf der Straße aufgewachsen, immer auf der Hut, immer auf der Flucht. Eine der Regeln ist: Niemals zurückweichen, denn dann hat der andere schon gewonnen. Aber hat er das nicht ohnehin schon?
„Nur Idioten betrachten es als eine Ehre auf eine Akademie zu gehen, die einen Teil ihrer Studenten gleich im ersten Jahr umbringt“, sage ich.
„Oh, wir bringen niemanden um“, sagt der Häscher. Ich weiche noch einen Schritt zurück und stoße mit dem Rücken an eine kalte Wand. „Ihr bringt euch selbst um.“ Er lässt ein Grinsen sehen, als würde ihn diese Tatsache amüsieren.
„Es gibt kein ihr“, fauche ich. „Ich gehöre nicht dazu!“
„Tatsächlich nicht?“, fragt er und macht noch einen Schritt auf mich zu. Er steht jetzt so nah, dass ich seine Augen funkeln sehen kann. Die schwarze Farbe, mit der die Häscher einen Balken über ihr Gesicht und die Augen ziehen, damit sie im Dunkeln schwerer zu sehen sind, verläuft an den Rändern und verfließt auf seiner Haut. „Sieht aber nicht so aus, als könntest du jetzt noch fliehen, oder?“
„Ihr habt die Falsche!“, sage ich in einem letzten verzweifelten Versuch, mich gegen das Unausweichliche zur Wehr zu setzen. „Ich habe null Magie in mir. Meine Eltern waren Niemand, ich stamme aus keiner der mutierten Linien, ich …“
Ich verstumme, weil er eine Hand hebt und eine Strähne meines beinahe weißen Haars um seine Finger wickelt und es interessiert betrachtet. Er ist mir so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren kann.
„Mh“, macht er unbestimmt, dann lässt er mein Haar wieder los, tritt einen Schritt zurück und ich kann aus den Augenwinkeln sehen, wie zwei andere Häscher auf mich zu treten. Einer von ihnen hält ein Seil in der Hand, der andere einen schwarzen Sack. So haben sie Brice damals auch weggebracht, genau so, und ich habe zugesehen. Zusehen müssen, weil ich mit verstauchtem Knöchel oben auf einem Balkon über ihnen gelegen und mir auf die Zunge gebissen habe, um nicht zu schreien und damit alles nur noch schlimmer zu machen. Er war neunzehn gewesen. Ich war damals wohl noch zu jung für die Häscher gewesen, jedenfalls haben sie mich nicht verfolgt. Unglücklicherweise erledigt sich die Hürde mit dem Alter aber mit der Zeit. Wie alt ich genau bin, weiß ich allerdings nicht.
„Nicht“, sagte ich und spüre eine einzelne Träne meine Wange hinunterlaufen. Ich sollte nicht weinen. Schwäche zu zeigen ist nie gut, aber ich kann die Träne nicht zurückhalten und weiß nicht einmal, ob ich um meinetwillen oder um Brice willen weine, der es hassen wird, dass sie mich auch gekriegt haben. Falls er noch lebt. Ich höre den Häscher, der die Treppe hinuntergekommen ist, wieder lachen. Ich spüre wie ich von zwei anderen Häschern an beiden Handgelenken gepackt werde und mir die Arme auf dem Rücken gefesselt werden. Kurz darauf sehe ich nichts mehr, denn der Sack, der sich erstaunlich weich anfühlt, ist aus blickdichtem schwarzem Stoff. Hoffentlich ersticke ich nicht. Obwohl das vielleicht noch das Beste wäre, wer weiß.
Ich hatte erwartet unsanft in einen Kofferraum geworfen zu werden, aber tatsächlich werde ich auf einen Sitz gesetzt und bekomme sogar den blöden Sack wieder ausgezogen. Die Fesseln lassen sie allerdings dran und sicherheitshalber haben sie auch gleich noch meine Knöchel aneinandergebunden. Als ob ich ihnen jetzt noch entkommen könnte.
Ich schaue mich um. Ich habe noch nie in einem Auto gesessen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten dieser Überbleibsel aus der alten Welt lange nicht so geräumig sind wie dieses hier und auch nicht so makellos gepflegte Sitze haben. Es wäre richtig bequem hier, wenn nur diese Fesseln nicht wären und dieser Häscher, der mich von der gegenüberliegenden Sitzbank anschaut. Autos gehören zu den wenigen Gefährten, die noch ohne Magie angetrieben werden, deshalb spüre ich einen Ruck als wir anfahren. Ich hätte gerne nach draußen geschaut, aber die Scheiben sind schwarz getönt. Ich kann nur das Innere des Wagens sehen, sonst nichts. Rechts und links von mir sitzen weitere Häscher, eine Frau und ein knochiger Mann, der immerzu nervös mit seinen Fingern auf sein Knie trommelt. Waren das nicht ursprünglich vier gewesen?
„Könnten Sie das bitte lassen!“, fahre ich den nervösen Häscher an.
Der Häscher mir gegenüber lacht leise, es ist dasselbe Lachen wie auf der Treppe. Fast hätte ich auch ihn angefahren, aber ich verkneife es mir lieber als ich sehe, wie der knochige Mann auf einen Blick des Häschers mir gegenüber sofort mit dem Trommeln aufhört. Stattdessen beginnen nun seine Mundwinkel scheinbar unkontrolliert zu zucken.
„Maydows“, sagt der Häscher mir gegenüber. Ich brauche einen Moment, um mir zu erschließen, dass er sich soeben vorgestellt hat.
„Interessiert mich nicht“, sage ich und schaue zum Fenster, obwohl ich durch die Scheiben nichts sehen kann. Die Stricke schneiden unangenehm in meine Handgelenke.
„Möchtest du dich verabschieden?“, fragt Maydows.
„Bitte was?“ Unwillkürlich fährt mein Kopf herum und ich schaue dem Häscher ins Gesicht. Er sieht eigentlich gar nicht so übel aus, wie er ist. Ein Mann um die Vierzig mit einem Drei-Tage-Bart und dunklem Haar.
„Wir sind keine Unmenschen“, sagt er.
„Ach nein?“, frage ich und rucke demonstrativ an der Fessel.
„Wir wissen, dass du keine Familie hast, aber Freunde können es ja auch wert sein“, sagt er.
Ein scharfer Stich durchfährt mich. Haben sie Brice auch angeboten sich von seinen Freunden zu verabschieden? Wenn ja hat er sich nicht von mir verabschiedet. Vielleicht hat er mich aber auch nur nicht gefunden, wer weiß. Das ist sogar sehr wahrscheinlich. Der kurz aufgeflammte Schmerz in meiner Brust verblasst sofort wieder.
Ich schaue wieder zu dem schwarzen Fenster, fühle das Ruckeln des Autos auf der unebenen Straße und muss an Donna und Olivia denken. Donna ist Olivias Großmutter, die beiden hausen in einem Keller. Ohne mich wären sie vermutlich längst verhungert. Olivia ist blass und schmal, aber sie hat etwas, was ich nicht habe: Sie zeigt Magie, was auch der Grund ist, warum ihre Großmutter sie schon seit Jahren versteckt, damit niemand sie findet. Olivia ist sechzehn, aber sie sieht aus wie dreizehn. Sie liebt Geschichten von Fabelwesen und von den anderen Welten und weiß mehr über die Welt-Zeit-Kollision als alle, die ich kenne, zusammen. Vielleicht hat sie sich aber vieles auch nur ausgedacht. Ich würde niemanden lieber noch einmal sehen als Donna und Olivia und diese wunderbare Liebe zwischen den beiden, nur werde ich den Teufel tun und den Häschern zeigen, dass es sie gibt. Aber ich muss irgendjemandem sagen, dass ich weg bin, weil jemand anders sich um sie kümmern muss und ich weiß, an wen ich mich wenden kann.
„Orson“, sage ich. „Er lebt bei …“
„Wir haben von Orson gehört und wir wissen, wo er lebt. Wirklich, von allen Menschen, die du jetzt noch einmal zum vermutlich letzten Mal sehen kannst, suchst du dir einen alten Irren aus?“ Maydows lehnt sich zurück und schaut mich aus seinen unergründlichen Augen durchdringend an. Sein Blick bringt mich ins Schwitzen. Er weiß es, denke ich. Er weiß, dass die Ausgestoßenen diejenigen vor ihnen verbergen, die Spuren von Magie in sich haben könnten. Darum greifen sie auch auf jemanden wie mich zurück, der den Sprung durch das Welt-Zeit-Portal zur Akademie höchstwahrscheinlich nicht schaffen wird. Sie versuchen es einfach – ihnen ist egal, wie viele Leichen sie dabei auf dem Weg zurücklassen. Wenn nur einer den Sprung schafft, ist das für sie ein Gewinn. Ich halte seinem Blick stand und hoffe, er sieht mir nicht an, wie schnell mein Herz klopft und wie heiß mir in diesem stickigen Auto wird. Warum benutzen sie diese fahrenden Teile überhaupt noch? Fliegen in einem ihrer Luft-Katamarane wäre sicher schneller und angenehmer.
Wir bleiben mit leicht quietschenden Reifen stehen und ich werde gegen die Häscherin zu meiner Linken gedrückt. Schnell versuche ich wieder Abstand zu nehmen und rücke ein Stück von ihr weg.
„Und jetzt?“, frage ich. „Tragt ihr mich zu ihm, oder was?“
Maydows grinst. „Nein, du darfst selbst laufen.“
„Sehr großzügig“, murmele ich so leise, dass mich vermutlich keiner hört. Ich will mir nicht anmerken lassen, dass ich Angst habe. Dass ich weiterleben wollte. Dass ich mich vor der ersten Prüfung fürchte, die stattfindet, bevor man überhaupt durch das erste Welt-Zeit-Portal zur Akademie springt. Von dem Portal selbst ganz zu schweigen, das mich auseinanderreißen wird, weil ich keine Magie in mir trage, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Mensch bin. Einer, dessen Blutlinie bei der Welt-Zeit-Kollision heil geblieben ist und der deshalb dazu verdammt ist, in einer Zeit und einer Welt zu leben und zu sterben und nie zu sehen, was die anderen Welten zu bieten haben. Nicht, dass ich mir nicht oft ausgemalt hätte, wie es wäre springen zu können. Die Welt-Zeit-Kollision hat nicht nur neue Welten geschaffen, sie hat die Zeit aller Dekaden durcheinandergebracht. Von dem, was unsere Vorfahren als Steinzeit kannten, bis zum Mittelalter und der frühen Neuzeit – überall haben sich Zeitlinien abgespalten und in eigene Welten gewandelt, so dass die Welten in unterschiedlichen Zeitlinien verharren. Aber dann gibt es auch noch die anderen. Die Welten, von denen sich niemand erklären kann, wie sie entstanden sind, die Kreaturen hervorbringen, die jegliche Grenzen durchbrechen und in allen Welten Zerstörung anrichten. Nur Seher mit ihren Wölfen oder Magier, die sie begleiten, sind in der Lage, zwischen den Welten zu springen, sie zu bekämpfen und damit alle Welten vor Zerstörung zu bewahren. All diese anderen Welten zu sehen wäre sicherlich – berauschend! Nur dass ich sie nicht sehen werde. Ich werde sterben.
Maydows zieht etwas aus einer Tasche seines Mantels hervor und hält es in die Höhe.
„Offiziell dürfen wir bei deinem Abschied nicht dabei sein, also müssen wir anders verhindern, dass du uns noch einmal abhanden kommst“, sagt er.
Ich starre den Ring aus Metall an, den er in der Hand hält. Eine Kette baumelt daran, die unter seinen Händen länger wird. Das leicht bläuliche Schimmern verrät mir, dass ich es mit magisch verstärktem Eisen zu tun habe.
Noch bevor ich etwas sagen kann, hat Maydows sich vorgebeugt, teilt den Ring in zwei Teile und legt ihn mir um den Hals. Es zischt leise, als das Metall sich magisch wieder aneinanderfügt, eine unzerstörbare Fessel, die sich kalt an meinen Hals schmiegt. Ich weiß, dass dieses verdammte Metall allem standhält, denn als Ausgestoßene bin ich mit einem Ohrring gekennzeichnet, der aus eben diesem Metall besteht. Alle, die ausgesetzt werden, weil sie keine Eltern haben oder niemanden haben, der beim Hohen Kreis für sie eintritt bekommen diesen Ohrring, den man nur wieder loswird, wenn man ihn rausreißt. Das offene Ohrläppchen zeichnet einen genauso wie der Ring selbst, deshalb kenne ich niemanden außer Orson, der seinen Ring entfernt hat.
„Ihr könnt die Fesseln lösen“, sagt Maydows zu seinen beiden Begleitern. Ich frage mich, warum sie sich überhaupt die ganze Mühe mit den Fesseln und dem Sack über dem Kopf gemacht haben, wo es doch offenbar so viel einfachere Möglichkeiten gibt, mich in Schach zu halten.
Als hätte er meine Gedanken gelesen grinst Maydows mich an und sagt: „Alte Tradition mit den nicht-magischen Fesseln. Wir hängen daran. Steig aus, aber bleib nicht zu lang weg. Ich schick dir ein Zeichen, wenn es Zeit ist zurückzukommen.“
Was für ein Zeichen? Will ich noch fragen, da öffnet der Knochige schon die Tür und schiebt mich unsanft nach draußen.
Ich lande auf einer Straße voller Schlaglöcher. Rechts und links der Straße erheben sich Häuser, die einstmals prächtige Villen gewesen waren, aber über die Zeit baufällig geworden sind und jeden Moment einstürzen können. Ich weiß, dass es andere Teile der Stadt gibt, in denen neue Gebäude und frisch renovierte Häuser stehen, aber als Ausgestoßene kenne ich nur diesen heruntergekommenen Teil, weil ich das Viertel nicht verlassen darf. Hier überlebt der Stärkere oder der, der sich mit anderen zusammentut, um die Nahrungsmittel zu teilen, die in Paketen von den Luft-Katamaranen willkürlich über dem Viertel abgeworfen werden. Manchmal meinen sie es gut mit uns und verteilen Pakete im ganzen Viertel, manchmal kommt nur wenig herunter. Brice und ich haben noch einen anderen Weg gefunden, um uns und ein paar andere zu ernähren. Wir haben einen Garten in einem Hinterhof angelegt, in dem wir alle Steine herausgerissen haben. Wir haben im Sommer unser eigenes Gemüse gezogen, dicke Zucchinis, rot leuchtende Tomaten und Bohnen. Orson hat uns auf diese Idee gebracht. Bohnen waren einfach zu ziehen, denn getrocknete Bohnen gehören zu den Esspaketen immer dazu. Wo Brice die anderen Samen her hatte, weiß ich nicht. Man tut sich zusammen oder ist ein Einzelkämpfer – nur Orson nicht. Orson lebt völlig allein in einer dieser heruntergekommenen Villen, die im Winter niemals warm werden, und trotzdem scheint jeder ihn zu kennen. Deshalb habe ich mir ihn ausgesucht.
Während ich in der heraufziehenden Morgendämmerung den Steinweg zur Villa hinaufgehe und die Kette hinter mir her schleife, denke ich trotzdem, dass ich die falsche Wahl getroffen habe, denn Maydows hat recht. Orson ist verrückt, er ist „irre“ wie Maydows es ausgedrückt hat. Wenn ich einen schlechten Tag erwischt habe, wird er kein Wort von dem verstehen, was ich ihm sage und es sich schon gar nicht merken. Er wird mich nur entrückt anschauen und seltsame Bemerkungen über das Wetter machen. Vielleicht habe ich Glück und er hat ein Stück Papier und einen Stift da, dann kann ich ihm eine Nachricht hinterlassen, denn Orson kann, genau wie ich, lesen. Wir haben schon oft gerätselt, wo er das gelernt hat, aber er kam offenbar einfach eines Tages vor meiner Zeit und blieb, niemand weiß, wo er vorher gelebt hat. Ich glaube, er kam zu den Ausgestoßenen, weil er als verrückt galt und niemand ihn mehr haben wollte.
Ich habe die Tür erreicht. Hoffentlich ist er überhaupt da. Hoffentlich ist er nicht im Garten, aber dort wollte ich nicht hinfahren, obwohl Orson gerne dort ist. Der Garten ist ein Geheimnis. Obwohl ich mich mittlerweile frage, was man vor Menschen wie Maydows überhaupt geheim halten kann.
Ich hebe die Hand und klopfe an die Tür. Plötzlich möchte ich einfach nur jemanden finden, der mich umarmt und mir sagt, dass alles nur ein böser Traum ist. Dass ich im alten Theater auf dem Boden liege, Brice neben mir, und ich aufwachen werde und alles wieder gut sein wird. Aber ich weiß, dass das hier kein Traum ist, sondern bittere Realität. Und als letzten Menschen, den ich auf dieser Welt sehe, habe ich mir ausgerechnet jemanden ausgesucht, der mich nur an manchen Tagen überhaupt erkennt. Ich möchte nicht mehr warten, sondern stoße die Tür auf. Nach wenigen Schritten stehe ich in einem großen Flur. Wenn Orson im Haus ist, hat er mein Klopfen vermutlich nicht gehört. Meistens ist er in der Küche, das ist sein Lieblingsraum, also mache ich mich dorthin auf den Weg. Vielleicht schläft er aber auch noch. Das Schleifen der Kette und der Ring um meinen Hals machen mich schier wahnsinnig.
Orson ist wach und er ist tatsächlich in der Küche. Ich betrete den Raum. Als hätte Orson meine Anwesenheit gespürt, dreht er sich abrupt zu mir um. Sein Blick wandert blitzschnell über mein Gesicht und dann über die Kette. Seine Augen weiten sich für einen winzigen Moment, dann springt er auf und schaut zum Fenster, als suche er nach etwas. Sein graues Haar hängt ihm wirr in die Stirn, sein struppiger Bart sieht so aus, als habe er ihn seit Monaten nicht gekämmt. Der geflickte Mantel hängt beinahe bis auf den Boden.
„Vielleicht regnet es noch“, sagt er, den Blick weiter nach draußen gerichtet.
Mein Herz sinkt.
„Tränen. Man sagt, es sind Tränen, die vom Himmel fallen.“
Fast schießen mir nun Tränen in die Augen. Ich habe einen schlechten Tag erwischt. Seine Stimme klingt schleppend und abgehoben, nicht klar. Er ist nicht bei sich.
Trotzdem muss ich loswerden, wofür ich hergekommen bin und ihn bitten, irgendwem von Donna und Olivia zu erzählen, damit jemand für sie sorgt. Orson mag seltsam sein, aber er scheint jeden in diesem Viertel zu kennen. In einem klaren Moment wird er die richtige Wahl treffen. Ich muss einfach hoffen, dass er sich merkt, was ich zu sagen habe. Ich hole Luft, aber ich komme nicht zum Sprechen.
Orson bewegt sich plötzlich mit einer Schnelligkeit, die ich ihm niemals zugetraut hätte. Mit einem Satz über einen Stuhl – so viel Agilität hätte ich ihm ebenso wenig zugetraut – ist er bei mir und verschließt meinen Mund mit seiner Hand. Erschrocken blicke ich in seine Augen und erwarte, dort diesen glasigen abwesenden Blick zu sehen, der zu der schleppenden Stimme gehört. Aber Orsons Blick ist klar und fokussiert. Er schüttelt ganz leicht den Kopf.
„Bei Regen können die Vögel nicht fliegen“, sagt er in dieser leicht lallenden Stimme, die überhaupt nicht zu seinem wachen Blick passt. Er nimmt die Hand von meinem Mund und deutet auf die Kette und den Ring um meinen Hals und dann auf seine Ohren. Er wirkt klar – bis auf seine Worte. Er wiederholt die Geste und endlich verstehe ich. Maydows hört mit. Die Kette ist eine Abhörvorrichtung.
„Ich wollte mich verabschieden“, sagte ich aus dem Konzept gebracht. Was soll ich tun, wenn Maydows mithört? Ich will Olivia nicht verraten. Jetzt ist sie noch zu jung, aber wenn Maydows sie findet, wird er sie über kurz oder lang holen, so wie er heute mich geholt hat.
„Ich mag Vögel“, sagt Orson. „Sie sind frei.“
Er blickt mich an. Unter seinem Blick fangen meine Augen an zu brennen. Ich muss mich zurückhalten, um nicht zu weinen. Ich bin zu jung zum Sterben.
„Selbst die besten Vögel werden manchmal vom Adler gefangen“, sagt Orson mit abwesender Stimme aber einem absolut klaren Blick. Er breitet die Arme aus. Obwohl ich erwachsen bin, werfe ich mich wie ein Kind hinein und bin versucht, mich an seiner Schulter auszuweinen.
„Ich gebe den Vögeln Namen“, sagt er und streichelt meinen Rücken. „Aber sie dürfen nicht im Regen fliegen, weil keine Tropfen auf die freien Federn fallen sollen.“
Ich verstehe, löse mich von ihm und wische meine Tränen ab, bevor Maydows mein Schluchzen hören kann.
„Schau aus dem Fenster“, sagt Orson. „Dieses Rotkehlchen da heißt Donna. Und die Amsel habe ich Olivia getauft.“
Ich sehe ihn an. Er weiß es. Er weiß nicht nur, dass es die beiden gibt. Er weiß, dass sie abhängig von mir sind und er weiß, dass ich sie nicht im Stich lassen will. Plötzlich ist er mir unheimlich.
„Das sind … schöne Namen“, sage ich und versuche ein Lächeln in seine Richtung.
„So ist es gut“, sagt er. „Lächeln ist gut. Lächeln ist Hoffnung.“ Dabei sieht er mich so intensiv an, dass ich glaube, er möchte mir sagen, ich solle die Hoffnung nicht aufgeben. Plötzlich bin ich mir sicher, dass er sich um Donna und Olivia kümmern wird, und ein Stein scheint von meinem Herzen zu fallen. Gleichzeitig möchte Orson anschreien und ihm sagen, dass es einfach ist von Hoffnung zu reden, wenn man nicht in wenigen Tagen von einem Portal zerfetzt werden wird, weil man keine Magie in sich trägt, die die Reise möglich macht. Falls man es überhaupt bis zum Portal schafft, denn laut Gerüchten gibt es vorher eine Herausforderung, die genauso tödlich enden kann.
„Weinen ist Regen“, sagt er. „Regen ist Stärke. Manchmal. Wenn die Erde trocken ist.“
Er geht zur Mitte des Raumes und zieht die Schublade eines Tisches auf, der dort steht. An diesem Tisch habe ich so oft mit Brice zusammen gesessen, dass allein der Anblick der zerkratzten Platte schmerzt. Ich schlucke den Schmerz herunter und vertreibe die Erinnerung. Orson zieht einen länglichen Gegenstand aus der Schublade und umfasst ihn mit beiden Händen. Er schließt die Augen. Nach einer Weile beginne ich zu fürchten, dass er mich vergessen hat, aber als ich mich gerade umdrehen und gehen will, öffnet er die Augen wieder und kommt zu mir. Mit ausgestreckten Händen hält er mir den Gegenstand hin. Es ist ein Dolch in einer verzierten Lederscheide, und auf dem Griff … in das Holz hinein ist der Buchstabe „J“ gebrannt. „J“ wie „June“. Als hätte Orson gewusst, dass es mich treffen wird und als hätte er diesen Dolch für mich aufgehoben.
„Abschied braucht Geschenk, ja?“, sagt er und klingt dabei so irre, dass ich Maydows Zweifel an meiner Wahl verstehen kann. Aber Orsons Blick ist immer noch klar, auch wenn ich plötzlich das Gefühl habe, er sähe noch älter aus als sonst. Dass sie mich holen, nimmt ihn offenbar mit. Ich fühle einen Schwall von Zuneigung zu ihm. Orson liebt uns alle, egal wer wir sind und welche Fehler wir machen. Er schaut auf den Dolch.
„Eine Amsel sieht so unscheinbar aus“, sagt er. „Aber im Innern schlummert immer Magie. In jedem Teil der Natur.“
Er streicht über den Dolch und da verstehe ich. Der Dolch ist ein Artefakt. Der Dolch ist mit Magie aufgeladen. Wenn ich den Dolch bei mir trage, wird er mich heile durch das Portal bringen. Ich kann mir nicht erklären, wo Orson ein solches Kleinod aufgetrieben hat, aber das ist in diesem Moment egal. Ich hoffe nur, die Magie ist gut eingeschlossen, sonst wird Maydows es merken und ihn mir abnehmen. Oder ist es vielleicht erlaubt, Artefakte mitzunehmen? Vielleicht ist das gar nicht verboten.
Zögernd strecke ich die Hand aus und Orson legt mir den Dolch hinein. Nein, er legt mir keinen Dolch hinein. Er legt mir eine Möglichkeit zu Überleben in die Hände. Ich bin für einen Moment sprachlos, weil ich nicht weiß, ob ich es annehmen kann. Aber ich will es annehmen. Ich will leben.